3 Body Problem: Kritik zur 1. Staffel der Netflix-Serie (2024)

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Von: Reinhard Prahl

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3 Body Problem: Kritik zur 1. Staffel der Netflix-Serie (1)

Nachdem wir uns bereits die ersten beiden Episoden der Science-Fiction-Serie „3 Body Problem“ bei Netflix näher angeschaut hatten, werfen wir nun einen intensiven Blick auf die gesamte Staffel. Mehr dazu in unserem erläuternden Staffelfazit.

Spoilerwarnung - diese Meldung kann Hinweise auf die Fortführung der Handlung enthalten!

Perspektivwechsel

Eigentlich hätte man davon ausgehen dürfen - und vielleicht sogar müssen - dass die Roman-Adaption des literarischen Sci-Fi-Serie-Schwergewichts 3 Body Problem (in Deutschland: „Die drei Sonnen“) von Liu Cixin die Gemüter nicht nur spaltet, sondern geradezu erhitzt. Ausgehend von den guten Bewertungen auf allen einschlägigen Portalen hat es das jedoch offenbar nur sehr eingeschränkt. Nachdem die ersten beiden Episoden neue Figuren einführten und die Gegenwartshandlung nach England (nicht USA, wie versehentlich im ersten Review geschrieben) verlegt wurde, schien der chinesische Blickwinkel aber doch auf angemessene Weise erhalten zu bleiben.

Nach Sichtung aller acht Episoden steht indes fest, dass die Geschichte erstaunlich eigene Wege geht. Abgesehen von der während der chinesischen Kulturrevolution angesiedelten Vorgeschichte um die junge Physikerin Ye Wenjie bleibt nämlich grundsätzlich nicht viel von der für die Geschichte so wichtigen kulturellen Perspektive erhalten.

3 Body Problem: Kritik zur 1. Staffel der Netflix-Serie (2)

David Benioff, D. B. Weiss und Alexander Woo lassen damit zwar den Auslöser der Geschichte unverändert, wenden sich dann aber von den aus dem Roten August erwachsenen Konsequenzen zunächst ab und konzentrieren sich auf die neu eingeführten Hauptfiguren Auggie (Eiza González), Jin (Jess Hong) und Saul (Jovan Adepo).

Und das erweist sich als gute Idee, denn im Verbund mit dem an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankten Will (Alex Sharp) fügen die Macher eine emotionale Komponente in die Story ein, die sich neben dem starken philosophischen Tiefgang gut schlägt und darauf verweist, dass Liebe und Hass trotz allen Fortschritts noch immer die größten und unkontrollierbarsten Triebfedern im menschlichen Handeln sind.

Hier schon mal der Trailer zur Serie „3 Body Problem“:

Kant lässt grüßen

3 Body Problem: Kritik zur 1. Staffel der Netflix-Serie (3)

Damit kommen wir dann auch auf die im Review zu den ersten beiden Folgen von „3 Body Problem“ bereits angesprochenen philosophischen Aspekte, die weit in die Handlung hineinreichen und einige nachdenkenswerte Passagen bereithalten. Beginnen wir unsere Betrachtungen mit der Physikerin Ye Wenjie, die als junge Frau die bestialische Hinrichtung ihres Vaters miterleben musste. Dies, und die bis 1976 anhaltenden brutalen Kampagnen roter Garden, führten bei der Protagonistin zu einem Glaubensverlust an das Gute im Menschen.

Mehr noch: Ye Wenjie ist zu der Überzeugung gelangt, dass die Menschheit grundlegend böse ist und daher ihre Auslöschung entweder selbst herbeiführen oder zumindest dafür verantwortlich ist, wenn diese von außen initiiert wird. Damit begibt sich die Serie auf das weite und enorm komplexe Feld der ethischen Philosophie von Immanuel Kant, die übrigens in China bis heute äußerst populär ist. Die Kulturrevolution beweist nämlich im Kontext zu „3 Body Problem“ nichts anderes, als dass die Menschheit unmündig ist und sich ihrer Probleme nicht zu stellen vermag.

Kant schrieb, dass jene Unmündigkeit immer dann selbstverschuldet ist, wenn sie nicht auf mangelnden Verstand zurückzuführen ist, man also in voller Absicht das Falsche tut. Er geht sogar noch einen Schritt weiter, wenn er Menschen, die sich nicht ihres gesunden Menschenverstandes bedienen, als faul und feige bezeichnet. Dafür wünscht er sich den Mut, sich dessen zu bedienen. Insofern hindert uns einzig die Tatsache, dass wir uns Maximen auferlegen können, die moralisch betrachtet Regelcharakter haben daran, dem Bösen in uns freien Lauf zu lassen. Egal, ob wir also böse oder gut handeln, als intelligente Menschen mit einem gesunden Verstand sind wir für unsere Taten vollumfänglich haftbar wie der im ersten Review bereits erwähnte Slavoj Žižek so treffend schreibt.

Dasselbe trifft natürlich auf Ye Wenjie zu, die einem klassischen Fehlschluss unterliegt. Dröseln wir das Ganze ansatzweise formallogisch auf, lässt sich ihre Logik vielleicht ungefähr so umschreiben: Die Mörder meines Vaters sind Menschen. Daraus folgt: Alle Menschen sind Mörder. Wie falsch dieser Schluss ist, erschließt sich auf den ersten Blick. Schlimmer ist aber noch die Konsequenz, die die Wissenschaftlerin aus ihrer Erkenntnis zieht: Alle Menschen sind Mörder, deshalb muss die gesamte Spezies ausgelöscht werden. Aus dieser Folgerung heraus antwortet Ye Wenjie den Trisolariern und will ihnen bei der Eroberung der Erde helfen.

Damit handelt sie, wie es der britische Philosoph Julian Baggini ausdrückt, „selbstgerecht böse“, was sie in eine Reihe mit radikalislamischen Kämpfern des IS oder vielen SS-Angehörigen stellt, die davon überzeugt waren und sind, dass ihre Sache gut und gerecht ist.

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Lügengebäude

3 Body Problem: Kritik zur 1. Staffel der Netflix-Serie (4)

Dasselbe gilt selbstverständlich für Mike Evans, der zwar einerseits behauptet, alle Wesen seien gleich, der sich aber andererseits mit der Gründung der ETO über den Rest der Menschheit erhebt, um sie zu zerstören. Er ist es übrigens auch, der eines von Kants Lieblingsbeispielen in Bezug auf den kategorischen Imperativ geradezu erschreckend naiv vor dem Publikum ausbreitet: die Lüge und welche Folgen sie haben kann. In den ersten Teilen der Staffel wird noch eine mögliche Zusammenarbeit zwischen Trisolariern und einer auserwählten Gruppe von Menschen impliziert. Die Getreuen von Mike Evans streben eine Art Reset - einen speziesübergreifenden Neustart durch die Eroberung der Erde an.

Die Hoffnung, die technologische und moralische Überlegenheit der Anderen könnte die Menschheit aus den tiefen Abgründen des fadenscheinig gerechtfertigten Bösen befreien, stellt sich jedoch bald als Hirngespinst heraus. Schade ist an dieser Stelle nebenbei erwähnt, dass die Serienmacher nicht darauf eingehen, dass sich im Roman innerhalb der „fünften Kolonne“ drei Fraktionen mit einem stark unterschiedlichen Moralkompass herausgebildet haben. Die eine Partei unter Evans und Ye Wenjies Führung sehnt im Originaltext die Vernichtung der Menschheit als einzigen Weg der Rettung des Planeten herbei.

Die zweite Gruppe versucht eine Lösung für das Dreikörperproblem zu finden, um den Trisolariern zu helfen und somit die Invasion friedlich abzuwenden. Die dritte dient den Aliens unter der Voraussetzung, dass ihre Nachfahren (merke: Die Raumschiffe der Invasoren reisen nur mit 1 Prozent der Lichtgeschwindigkeit und treffen erst in 450 Jahren ein) weiterleben dürfen. Die Möglichkeit, das oben erwähnte „selbstgerechte Böse“ direkt neben die Deontologie sowie der egoistischen Ethik zu platzieren und zum Diskurs zu stellen, ist an dieser Stelle also leider vertan.

Doch kehren wir zurück zur Lüge, die dazu führt, dass „mein Lord“ die Organisation nicht länger beschützt. Evans Geständnis, dass Menschen im Grunde genommen permanent lügen (ob aus moralisch nachvollziehbaren Gründen oder nicht spielt hier keine Rolle) wird zum Auslöser für die Vernichtung der ETO (Erde-Trisolaris-Organisation) und führt möglicherweise in der Zukunft die Auslöschung der Menschheit herbei. Die Aliens kennen das Konzept der Lüge nicht. Als sie es aufgrund des gut gemeinten, letztlich aber naiven Fehlers von Evans schließlich kennenlernen, hat dies schwerwiegende Konsequenzen. Denn die Aliens kommen zu dem Entschluss, dass man Wesen, in deren DNA die Lüge quasi als Überlebensstrategie eingebrannt ist, nicht vertrauen kann.

Kant vertrat in einem berühmten Beispiel durchaus eine ähnliche Meinung, als er sich einen Menschen vorstellte, der sich Geld mit dem Versprechen borgt, es zurückzuzahlen, dieses aber nicht zu tun gedenkt. Wäre dieses Verhalten eine Maxime und würden wir all unsere Versprechen mit dem Gedanken im Hinterkopf geben, diese ohnehin nicht erfüllen zu wollen, wäre unsere Spezies zur Vernichtung verdammt, weil jegliche Form des vertrauensvollen Zusammenlebens damit unmöglich wäre. Genau das geschieht in „3 Body Problem“, wenn die Außerirdischen erkennen, dass eine zukünftige Koexistenz mit notorischen Lügnern nur ins Chaos führen kann.

Schicksal und Glaube

3 Body Problem: Kritik zur 1. Staffel der Netflix-Serie (5)

Doch was ist hier genau geschehen? Ist das sich anschließende Erkennengeben der Trisolarier und ihrer technologischen Überlegenheit, der Tatsache geschuldet, dass sie uns aufgrund von Evans Fehler für Ungeziefer halten? Liegt hier also ein klassischer Fall von Ursache und Wirkung vor? Oder hegten die Außerirdischen nicht ohnehin von Anfang an die Absicht, die Menschheit zu vernichten, wie der Pazifist zu Beginn der Serie andeutet?

In diesem Fall wären die Menschen nie mehr als bugs gewesen, die man getrost zertreten kann. Andererseits könnte Evans aber auch nur sein ohnehin vorbestimmtes Schicksal erfüllt haben. Hinweise auf diese Vermutung lässt die Tatsache zu, dass „mein Lord“ alias Sophon die Vernichtung der gesamten Organisation zulässt, weil die K.I. entscheidet, der Menschheit nicht mehr vertrauen zu dürfen. Andererseits wendet sie sich aber der von Kindesbeinen an indoktrinierten Killerin Tatiana (Marlo Kelly) zu, um auf der Erde weiterhin auf willfährige Gläubige setzen zu können.

Mit der Figur nähern sich die Serienmacher dem schwierigen Thema des radikal fundamentalistischen Glaubens. Tatiana ist eine radikale Gläubige, die bereit ist, alles für ihren Gott in der Hoffnung zu tun, in irgendeiner Form Erlösung zu finden. Sie tötet skrupellos für die Sache und wähnt sich als Auserwählte. Auf der anderen Seite ist auch Thomas Wade (Liam Cunningham), der mächtige Anführer der menschlichen Verteidigungsallianz, durchaus fundamentalistisch und radikal und hat eine Art Glaubensbekenntnis. Dieses steht dem von Tatiana konträr gegenüber, was beiden Figuren eine gewisse Tiefe verleiht.

Liebe und Hass

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Glaube an sich ist allerdings emotional und nicht naturwissenschaftlich erfassbar. Die Naturwissenschaft spielt hingegen in der Serie eine außerordentliche Rolle, doch sie ist genauso wenig der Grund, warum die Menschheit eine Rettung verdient, wie der Fundamentalismus. Benioff, Weiss und Woo brechen die Lebensberechtigung unserer Spezies mit den beiden Figuren Will Downing und Jin Cheng im Kern auf die Fähigkeit zu lieben herunter. Will hat Jin sein Leben lang geliebt, ihr aber aus Angst vor der Zerstörung ihrer Freundschaft niemals reinen Wein eingeschenkt. Als er sich entscheidet, sein Gehirn kryokonservieren zu lassen, um dieses der Trisolarierflotte in einer Sonde entgegenzuschicken, tut er dies nicht um der Menschheit willen.

Tatsächlich empfindet er unserer Spezies gegenüber Abneigung und sogar Hass. Dennoch entscheidet er sich für ihre Rettung, weil er Jin liebt und wenn es ein Mensch wert ist, gerettet zu werden, dann letztlich auch die ganze Gattung. Das mag einigen Zuschauenden vielleicht zu weit hergeholt sein, ergibt aber Sinn, weil einerseits Liebe ohne Hass nicht möglich ist und andererseits viele Menschen bereit wären, für die Rettung ihrer Liebsten zu sterben. Derartiges erleben wir beispielsweise nur wenige hundert Kilometer entfernt fast täglich im Ukrainekrieg.

3 Body Problem: Kritik zur 1. Staffel der Netflix-Serie (7)

Liebe ist eben ein komplexes Thema. Der französische Philosoph Alain Badiou nennt sie gar „die intensivste Beziehung der Anerkennung und Abhängigkeit vom anderen, die wir in unserer Existenz kennen.“ Und weiter: „Im Fall der Liebe ist es ein so winziges Ereignis wie die Begegnung zweier Menschen, die im Zuge ihrer Entfaltung die Gesetze der Welt überschreiten.“ Wills Entscheidung ist so betrachtet nachvollziehbar, weil er selbst zum Tode verdammt ist und die richtige Konsequenz aus seiner Liebe zieht. Das Tragische ist allerdings, dass die Sonde aufgrund eines unvorhersehbaren Ereignisses ihr Ziel niemals erreichen wird und Wills weder lebendes noch totes Gehirn auf ewig durch das All reisen wird, eine durchaus schöne Metapher auf seine unerfüllte Liebe zu Jin.

Ein Wort zum Schluss

3 Body Problem: Kritik zur 1. Staffel der Netflix-Serie (8)

Mit dem vorliegenden Artikel sind längst nicht alle Themen von „3 Body Problem“ adäquat erfasst und nicht alle Geheimnisse gelüftet. Die Absicht dieser Arbeit lag vielmehr darin, den Subtext der Geschichte grob zu erfassen und das interessierte Publikum ein Stück weit auf dem Weg zu begleiten, diesen zu erschließen. Einerseits bietet diese Serie stellenweise ein audiovisuelles Spektakel erster Güte. Wenn die Sophonen sich der Menschheit offenbaren und den Untergang der Menschheit heraufbeschwören, wählen die Serienmacher ebenso beeindruckende wie bedrückende Bilder. Menschen, die sich reihenweise umbringen, Plünderungen, Aufstände und Chaos. Und das, weil in 450 Jahren möglicherweise eine Alieninvasion erfolgen könnte.

Ist das glaubwürdig? In Anbetracht des wachsenden Zulaufs, den Verschwörungstheorien weltweit zu haben scheinen, dem Wertverlust des demokratischen Politiksystems und dem damit verbundenen Vormarsch von Autokratien erscheint das gezeichnete Schreckensszenario nicht unrealistisch. Wenn sich in solchen Zeiten eine Serie wie 3 Body Problem anschickt, hohe Unterhaltungswerte mit Tiefgang zu kombinieren und zu einem Diskurs über den gesunden Menschenverstand einlädt, ist dies nicht nur lobenswert, sondern in diesem Fall auch gelungen.

Ja, die Staffel entfernt sich stellenweise stark von der literarischen Vorlage und geht eigene Wege. Die Essenz bleibt jedoch erhalten. Damit haben es David Benioff, D. B. Weiss und Alexander Woo schon in der ersten Staffel erreicht, ein sehenswertes Konstrukt zu erschaffen, das jede Minute der Beschäftigung mit ihm wert ist.

Dafür gibt es von uns viereinhalb von fünf Punkten.

Der Originaltrailer zur Serie „3 Body Problem“:

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Author: Arline Emard IV

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